Dokumentation

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Nachgelebte Geschichte

Produziert im Auftrag des SWR und realisiert unter der Regie von Volker Heise von der Berliner Zero-Film aus Anlass des 50-Jahr-Jubiläums des Südwestfunks, ist «Schwarzwaldhaus 1902» ein Dokumentarfilm im «Living history»-Format. Geschichte wird hier nicht nacherzählt und mit Archivmaterial illustriert, sondern gelebt, von Versuchspersonen in einer geschaffenen Situation, als Alltagsgeschichte und vor der Kamera. «Schwarzwaldhaus 1902» ist nicht nur ein Beispiel für die fortschreitende Ausdifferenzierung der Dokumentarformale im Fernsehen, sondern auch, wie der Vorspann deutlich macht, für die laufende Neubestimmung der Grenze zwischen nichtfiktionalem und fiktionalem Film.

Eine deutsche Familie, ausgewählt aus 700 Bewerbern, die sich auf einen Aufruf im ARD Boulevardmagazin «Brisant» gemeldet hatten, sollte drei Monate auf einem Bauernhof zubringen und dort leben und wirtschaften, als wäre es 1902. Eine Zeitreise unter Observation, würden die Teilzeitbauern doch fast täglich für einige Stunden gefilmt. Der Hof wurde zu diesem Zweck «zurückgebaut». Das WC kam raus, die Heizung ebenfalls, die Wasser- und Stromleitungen wurden gekappt, und alles moderne Werkzeug verschwand vom Hof.

Anstatt nur vor dem Fernseher zu sitzen und sich vorzustellen, wie es wohl wäre, unter solchen Bedingungen und in einer solchen Zeit zu leben, hatte die ausgewählte Familie das Privileg, gleich selbst hinzufahren und es zu erleben. «Schwarzwaldhaus 1902» ist ein Dokumentarformat, das die Frage des Publikums nach der Erlebnisqualität der Vergangenheit zu beantworten versucht und historisches Verstehen als persönliches Erleben anschaulich macht. Ein Rollenspiel ohne Rollen, wenn man so will. Die Akteure folgen keinen Regieanweisungen, die historischen Kleider, die sie tragen, sind Kleider und nicht Kostüme, die Nöte, die sie zum Ausdruck bringen, basieren nicht auf einem Drehbuch und sind wohl in der Regel auch nicht gespielt. Und doch wären die Zeitreisenden nicht dort, wo sie sind, wenn sie nicht vom Fernsehen zu einem Spiel für die Kamera eingeladen worden wären.

Die Wahl fiel auf die Familie Boro aus Berlin; auf Grund ihrer «Bergsteigermentalität», wie die Macher der Serie es formulieren. Wie beim Spielfilm hängt das Gelingen dokumentarischer Formate, die auf Spiel- und Versuchsanordnungen basieren, wesentlich von der Auswahl des darstellenden Personals ab.

Gut ausgewählte Protagonisten

Die Casting-Entscheidung für «Schwarzwaldhaus 1902» erweist sich als äusserst glücklich. Ismail Boro, türkischstämmiger Doktor der Materialtechnik, seine Frau Marianne, eine Pädagogin, und ihre Töchter Reya (20), Sera (17) sowie der Sohn Akay (12) sind nicht nur robust genug, um den seelischen und körperlichen Anforderungen des Bauernlebens im Jahr 1902 zu genügen. Sie sind auch äusserst sympathisch und telegen und entwickeln richtige Starqualitäten. Namentlich Vater Boro wirkt als Schwarzwaldbauer fürs Fernsehen, auf der Wiese ein Pfeifchen schmauchend und die Wirtschaftslage des Hofes kommentierend oder die Hofsau auf dem Gang vom Schweinsgatter zum Stall begleitend, mindestens so authentisch wie einst Anthony Quinn als Grieche auf der Kinoleinwand.

Die Starqualität der Protagonisten verbindet «Schwarzwaldhaus 1902» mit einem anderen Programmformat, dessen Vorbild die Doku-Serie schon vor Produktlonsbeginn zum Gegenstand einer Kontroverse in den deutschen Medien werden liess. «Big Brother» im Freilichtmuseum sei das, befand etwa der «Spiegel», als er vom Vorhaben Wind bekam; es sei ein schamloser Versuch der öffentlichen Sender, mit den privaten Schritt zu halten. Letztlich ist der Vergleich aber substanzlos. Wohl observiert Regisseur Heise mit seinem Team die Boros, aber nicht rund um die Uhr und auf eine Art und Weise, die fast schon zu viel Respekt vor den Versuchsperson verrät (haben die denn gar nie Streit?), und gewiss kommentieren die viertuellen Bauern ihre Aktivitäten, als wären sie Fussballstars nach dem Schlusspfiff, aber sie haben auch ähnlich viel zu erzählen.

Lust vor Pflicht: Heuernte vernachlässigt

Schliesslich kann man aus «Schwarzwaldhaus 1902», einem Unterhaltungsformat, das von der Bildungsredaktion des SWR in Auftrag geben wurde, auch noch etwas lernen. Am meisten zu schaffen macht den Boros der Konflikt zwischen ökonomischen Zwängen und familiären Gefühlsregungen. Sie lassen die Heuernte sausen und gefährden damit den Hof, weil sie am letzten trockenen Tag des Augusts lieber den Geburtstag der Tochter feiern, als mit dem Heuen rechtzeitig anzufangen. Auch bringen sie es aus Tierliebe nicht übers Herz, das Schwein zu schlachten und als Vorrat für den Winter anzulegen. Mit dem Gefühlskostüm eines Familienmenschen des frühen 21. Jahrhunderts kann man, Kleiderwechsel hin oder her, auf einem Bauernhof des frühen 20. offenbar nicht reüssieren. Das jedenfalls lehrt uns das Fernsehen, das zur Pflege unserer modernen Gefühlskostüme bekanntlich keinen unwesentlichen Beitrag leistet.

Vinzenz Hediger, Neue Zürcher Zeitung

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